Fallbeispiele in der Märchentherapie

Therapeutisches Erzählen in der Komplementärmedizin

Therapeutisches Erzählen kann individuelle Wege zur Lösung von Blockaden aufzeigen. Märchentherapie geht davon aus, dass Märchen in symbolisch verschlüsselter Form von inneren Prozessen erzählen, die alle Menschen im Laufe ihres Lebens durchleben. Somit können durch das Erzählen von Geschichten und Märchen Lösungsmuster für innere Konflikte angeboten werden. Ein Märchentherapeut begleitet behutsam die Reise zu inneren unbewussten Bildern und folgt dabei dem Ansatz der positiven Psychologie.
Das bedeutet, sich nicht mit Defiziten sondern vielmehr mit den positiven Aspekten des Menschseins wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, individuelle Stärken, Verzeihen auseinanderzusetzen.

Die assoziative Arbeit mit den Bildern dieser Geschichten ist ein weiterer Bestanteil meiner Methode und beruht auf einer Kombination aus Elementen aus Meditation, Klängen, Achtsamkeits- und Kreativübungen.

Anhand der ausgewählten Fallbeispiele möchte ich meine Methodik verdeutlichen und Einblicke in das therapeutische Erzählen als unterstützende Maßnahme geben.

Die Geschichte von den beiden Wölfen

Eines Abends erzählte ein alter Cherokee-Indianer seinem Enkelsohn am Lagerfeuer eine Geschichte:
„Mein Sohn, in deinem Herzen wohnen zwei Wölfe. Ein schwarzer Wolf und ein weißer Wolf. “
Dann schwieg der alte Mann und schaute ins Feuer während er an seiner Pfeife zog.
” Was sind das für Wölfe Großvater ?”
” Nun- das sind keine gewöhnlichen Wölfe. Sie sind unsterblich.”
Abermals zog der alte Mann an seiner Pfeife, schaute ins Feuer und schwieg.
Der Junge wartete, doch schließlich wurde er ungeduldig und Fragte:
” Und was ist mit diesen Wölfen ?”
” Nun: Der schwarze Wolf bringt dir schlechte Träume und Ängste. Er bringt Zorn, Neid, Eifersucht, Sorgen, Schmerz, Selbstmitleid, Schuldgefühle und Vorurteile zu dir.
Der andere Wolf, der weiße , bringt die guter Träume und Freude, zuversicht, mit Gefühl, Aufrichtigkeit, Hoffnung und Liebe. Er schenkt dir Freude und Zuneigung. “
Der alte Mann hielt inne und zog an seiner Pfeife.
” Du musst wissen – mein Sohn: jeden Abend springen sie sich an, beißen sich aneinander fest und versuchen sich zu töten. Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach, und fragte dann:
„ Großvater – Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“Der alte Cherokee sah ihm in die Augen und lächelte als er antwortete: „Der, den du fütterst.“

Fallbeispiel 1

Die Ausgangslage


Bei Frau M. wurde vor 3 Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Von der brusterhaltenden Operation und der anschließenden Bestrahlung erholte sie sich gut und blieb zuversichtlich. Bis ein erneutes Rezidiv ( Wiederauftreten der Krankheit ) festgestellt wurde. Nun fiel es der 49-jährigen Frau schwer, optimistisch zu bleiben. Sie schlief sehr unruhig, hatte bedrückende Träume und erwachte morgens sehr früh. Sie litt unter anfallsweisem Herzklopfen mit Brustbeklemmung. Sie kompensierte ihre Unruhe durch Bewegung.

Der Ansatz


Die Geschichte von den zwei Wölfen erzählt von den beiden Seiten, die wir alle in uns tragen. Es liegt an uns – an unserer Ausrichtung und unserer Einstellung wie wir mit den Herausforderungen im Leben umgehen. Um dies zu verdeutlichen und im Bewusstsein zu verankern, wählte ich diese Geschichte.
Die Kraft unserer Gedanken und unserer inneren Ausrichtung ist sehr wirkungsstark. Wir können sie für uns einsetzen, aber auch gegen uns verwenden – ganz gleich, ob wir dies bewusst oder unbewusst tun. In jedem Fall gehen unsere innere und die äußere Welt in Resonanz. Das Ziel war, ein Bewusstsein für die inneren Ressourcen zu aktivieren und die Denkweise zu trainieren um den richtigen Wolf füttern.

Zusätzlich wurden im Gespräch Assoziationen über die hellen und dunklen Aspekte des Lebens vertieft und abschließend eine meditative Atemübung durchgeführt.

Das Ergebnis


Frau M. fühlte sich während des Erzählers ruhig und entspannt. Die Kombination aus der Geschichte und dem anschließenden Gespräch mit den Assoziationen half ihr, ihre Emotionen besser zu beobachten und zu steuern. Zu einem späteren Zeitpunkt gab sie mir als Rückmeldung, das ihr diese Geschichte samt der Vertiefung half optimistisch zu bleiben und Vertrauen zu finden, auch diese Krankheit meistern zu können und nicht aufzugeben.

Fallbeispiel 2

Die Geschichte vom durstigen Löwen

 

Es war einmal ein Löwe, der in einer Wüste lebte, die ständig vom Wind durch weht war. Deshalb war das Wasser in den Wasserlöchern aus denen er normalerweise krank, niemals ruhig und glatt. Der Wind kräuselte die Oberfläche und nichts spiegelte sich im Wasser. Eines Tages wanderte der Löwe in einen Wald, wo er jagte und spielte bis er ziemlich müde und durstig war. Auf der Suche nach Wasser kam er zu einem Teich mit dem verlockendsten Wasser, dass man sich vorstellen kann. Löwen können wie andere wilde Tiere auch Wasser riechen. Der Geruch dieses Wassers war für ihn wie Ambrosia. Der Löwe näherte sich dem Teich und streckte seinen Schädel über das Wasser um zu trinken. 
Plötzlich sah er jedoch sein eigenes Spiegelbild und dachte, es sei ein anderer Löwe. 
>Oh je < , dachte er …  > das Wasser gehört wohl einem anderen Löwen. Ich sollte vorsichtig sein! <
So zog er sich zunächst zurück in den Schatten eines Baumes – aber der Durst trieb ihn wieder zum Wasser hin. Und abermals sah er den Kopf eines furchterregenden Löwen, der ihn von der Wasseroberfläche her anstarrte. Dieses Mal hoffte unser Löwe, er könnte den anderen Löwen verjagen und er riss sein Maul auf um laut und furchterregend brüllen. 
Doch als er seine Zähne bleckte, riss natürlich auch der andere Löwe sein Maul auf und dieser gefährliche Anblick erschreckte den Löwen. Wieder zog er sich zurück unter den Baum und näherte sich dann doch abermals dem Teich. Er war so durstig. Doch immer wieder machte eher die selbe Erfahrung. 
Nachdem einige Zeit vergangen war, wurde er so durstig und so verzweifelt, dass er zu sich selber sagte: > Löwe hin, Löwe her – ich werde jetzt einfach von diesem Wasser trinken. <
Und wahrlich: sobald er sein Gesicht in das Wasser tauchte war der andere Löwe auch schon verschwunden.

Die Ausgangslage


Frau S. war sehr gehemmt in Situationen, in welchen sie vor anderen Menschen sprechen sollte – obwohl sie in vertrauter Umgebung ein offener und freundlicher Mensch ist. Sobald sie vor anderen Menschen trat, litt sie unter leichtem Zittern im ganzen Körper, Gesichtsröte, Schweißbildung in den Handflächen und unter den Achseln. Sie wollte gerne diese Blockade auflösen um vor Menschengruppen frei und ungezwungen reden zu können.

Der Ansatz


Die Geschichte vom durstigen Löwen erzählt unter anderem vor dem Zurückschrecken des eigenen Spiegelbildes. Das Kernstück dieser Geschichte ist die anschließende Selbstüberwindung. Ich wählte diese Geschichte, um die typische Strategie in solchen Situationen darzustellen. In diesem Fall spiegelte der Löwe das ausweichen und flüchten wieder, das Frau S.immer wieder in solchen Konfliktsituationen anwendete. Das Ziel war, Frau S. Alternativen aufzuzeigen, um eine andere Strategie entwickeln zu können.

Zusätzlich wandte ich Teilaspekte aus der Theater- und Bewegungstherapie an. Frau S. wurde aufgefordert, im Raum umherzugehen und dabei den Gang und die Haltung eines Löwen nachzuahmen: zuerst, als er sich ängstlich fühlte und später, als der Löwe seine Angst überwunden hatte und sein Bedürfnis ( den Durst) gestillt hatte. Die Körperwahrnehmung wurde später stimmlich gekoppelt und vertieft als Frau S. aufgefordert wurde, das Gebrüll des Löwen gemeinsam mit mir nachzuahmen, um sich stimmgewaltig Gehör zu verschaffen. Diese Körper- und Stimmarbeit spiegelten Frau S. wieder, dass sie sich vor Publikum eher wie eine kleine und unscheinbare Maus fühlte als ein Löwe. Und ebenso wie eine Maus, wich sie aus und flüchtete sich in ihr Schutzloch.

Das Ergebnis


Durch die inneren Bilder der Löwengeschichte und die Körperarbeit wurde Frau S. bewusst, das sie in Situationen wie dem Auftritt vor einer Gruppe ängstlich zögerte und das Gefühl des Zurückschreckens sofort hervor gerufen wurde. Wie die Maus mit ihrer piepsigen Stimme flüchtete sie vor solchen Situationen. Sie ergriff die Möglichkeit, gedanklich und körperlich die Haltung eines Löwen einzunehmen und sich darin zu “verankern”. Mit einer klaren körperlichen Haltung lernte sie, kraftvoll aufzutreten und standzuhalten und zudem über diese Körperhaltung ebenfalls die Stimme zu beeinflussen. Hierzu verinnerlichte sie die kraftvoll entspannte Haltung des Löwen, nachdem er sich selbst überwunden hatte. Ebenso war Frau S. bewusst geworden, dass sie noch nicht über ausreichendes Selbstbewusstsein verfügte( ihre Interpretation der Maus ). Sie lernte in kleinen Schritten, sich ihr Denken und ihr Verhalten bewusst zu machen und zu überprüfen, und auch wenn nötig, zu korrigieren. 

Fallbeispiel 3

Das größte Schneckenhaus der Welt


Auf einem saftigen Kohlkopf leben ein paar Schnecken. Sie assen und ließen sich den Kohl schmecken.
» Wenn ich erwachsen bin«, sagte eines Tages eine kleine Schnecke zu ihrem Vater, » dann möchte ich das grösste Haus der Welt haben. «
»Das ist dumm«, antwortet der Vater, »manche Dinge sind besser, wenn sie klein sind. Sieh zu, dass dein Haus klein bleibt und bequem zu tragen ist.«
Aber die kleine Schnecke wollte nicht hören. Sie drehte und verdrehte sie sich, sie zuckte, druckste und zerrte und wand sich, bis sie entdeckte, wie man sein Haus wachsen lassen kann. Das Haus wuchs und wuchs, und die anderen Schnecken auf den Kohlblättern staunten und sagten:»Du hast bestimmt das grösste Haus der Welt.«
Die kleine Schnecke wand sich und drehte und druckste weiter und arbeitete, bis ihr Haus so gross war wie ein Kürbis. Sie war stolz und glücklich weil alle darüber staunten.
Aber eines Tages hatten die Schnecken alle Blätter gegessen, und sie wanderten zu einem anderen Kohlkopf.
Aber die kleine Schnecke konnte nicht mitkommen, ihr Haus war viel zu schwer. Sie musste allein zurückbleiben, und es gab nichts mehr zu essen für sie. Der Hunger wurde immer grösser, und sie wurde immer weniger, und schliesslich blieb ihr nichts anderes übrig als das Haus aufzugeben wenn sie nicht verhungern wollte. Sie ließ das Haus zurück und zog nackt durch den Garten auf der Suche nach Nahrung. Und dabei entdeckte sie die herrlichsten Dinge. Wie groß ist die Welt doch war und wie lecker. Die Erdbeeren waren köstlich. Doch während sie sich satt ass, überraschte sie ein Gewitter. Sie suchte Unterschlupf in einem Holzstapel. Doch dort wehte der Wind hinein und die kleine Schnecke vor fürchterlich. Sie formte sich ein neues Haus, dieses war kleiner als das erste und auch nicht so schön. Es war bequem und bot Schutz vor Regen und Wind. Mit diesem kleinen Haus zog sie schließlich durch die Welt. Sie wollte entdecken, was es noch alles zu sehen gab. So kam die kleine Schnecke zu einer Straße – einer Schnellstraße. Dort fuhren in einer Stunde 120 Autos, 60 Laster, 40 Transporter und 20 Motorräder vorbei. Die Wahrscheinlichkeit, dass die kleine Schnecke diese Straße lebend überquerte war sehr gering. Sie legte in einer Minute einen cm zurück. Aber das wusste sie nicht. Sie ging einfach los. Und sie kam an.

Die Ausgangslage


Frau B. arbeitete als Stationsleitung in einer Klinik. Sie hatte bereits mehrjährige Erfahrungen in dieser Position als sie eine neues Stelle antrat. Es gab in einem kurzen Zeitraum, bevor Frau B. die Position in diesem haus annahm, schon zwei Leitungswechsel. Die Stimmung im Team war schlecht. Es fühlte sich von der Pflegedirektion nicht unterstützt und alleingelassen und vom ärztlichen Team weder wertgeschätzt noch ernst genommen. Zudem hatten sich die Aufgaben auf Station in den letzten Jahren aufgrund Personeller Engpässe und hoher Fluktuation zunehmend verdichtet. Für Frau B. wurde es zunehmend belastender, mit der negativen Stimmung klarzukommen. 
Aufgrund des allgemeinen Pflegenotstandes hatte die Klinik zunehmend Probleme damit, neues Personal zu rekrutieren. Die Belegschaft warf Frau B. vor, dass sie sich persönlich nicht genug dafür einsetzen würde, neue Mitarbeiter*innen zu finden. Der Krankenstand im Team war außergewöhnlich hoch, was zusätzlich zu Konflikten mit der Pflegedirektion führte. Frau B. fühlte sich von allen Seiten angegriffen und wurde immer reizbarer. Nachdem ihr  wiederholt die Kontrolle entglitten war, ließ sich drei Wochen krankschreiben

Der Ansatz


Die Geschichte allergrößten Schneckenhaus erzählt unter anderem davon, sich sehr viel oder auch zu viel aufzubürden. Die Konsequenz davon ist Bewegungsunfähigkeit und eine Mangelsituation. Ich wählte diese Geschichte aus, um die festgefahrene Situation aufzuzeigen und Frau B. Wege aus dieser aufzuzeigen.
Die Ruhe der Schnecke ist niemals Faulheit oder Bequemlichkeit, sondern Ausdruck von Bedacht und Besinnung. Die Schnecke ist langsam, klein und weich. Zudem nimmt sie mit ihren Fühlern sehr sensibel ihre Umgebung wahr. Und gerade das ist heute in unserer Gesellschaft nicht gefragt. Schnelligkeit, Größe, Effizienz und Härte dagegen schon. Darum sagen wir auch, wenn wir jemanden klein gemacht, überholt oder zum Rückzug gezwungen haben, dass wir ihn zur Schnecke gemacht haben.

Doch von der Schnecke können wir alle eine neue Gangart lernen. Wir haben unsere Geschwindigkeit ins atemberaubende gesteigert, aber darüber den Atem des Lebens und die Zeit zum Leben verloren. Diese Reflexionen und Betrachtungen erfolgten im Anschluss an die Geschichte. Zudem wendete ich Elemente aus der Bewegungstherapie an: der Raum wurde mit unterschiedlichem Tempo durchschritten und anschließend darüber reflektiert. Als “Hausaufgabe” bekam Frau B. den Auftrag, beim Spazierengehen nach einem Schneckenhaus Ausschau zu halten.

Das Ergebnis


Frau B. erkannte ihre Überbelastung und beschloss, dass sie zunächst selbst wieder in einen besseren emotionalen und psychischen Zustand kommen musste ehe sie sich der entgleisenden Situation auf Station widmen konnte. Nach Wiederaufnahme der Arbeit blieb die Situation auf Station weiterhin schwierig, aber Frau B. entwickelte neue Strategien, mit den bestehenden Herausforderungen umzugehen. Die wichtigste Veränderung für sie war, dass sie anfing, ihren Mitarbeiter*innen achtsam zuzuhören und mitfühlend auf deren Schwierigkeiten und Nöte einzugehen. Auch wenn sie an deren Situation nicht viel ändern konnte, war dies trotzdem ein wichtiger Schritt. Die Mitarbeiter*innen fühlten sich plötzlich gehört und angenommen. Bei Schichtwechseln führte Frau B. ein, dass alle Mitarbeiter*innen sagen konnten, wie sie sich heute fühlten bevor über die Arbeitsinhalte und die Patienten gesprochen wurde. Zudem über trug sie viele ihrer Aufgaben auf ihren Vertreter.

In Stresssituationen wandte sie vor ihrem inneren Auge den “Zeitlupenschritt” an, den wir als Bewegungsablauf für das Schneckentempo ausprobiert hatten. Für Frau B. war die wichtigste Erfahrung in diesem Prozess, dass kleine Veränderungen, wie zum Beispiel zuzuhören und die Probleme anderer anzuerkennen, eine große Wirkung haben können. Ausserdem lernte sie, Stresserscheinungen durch Beobachten und Steuern der Emotionen zu mindern sowie Erschöpfungszustände rechtzeitig wahrzunehmen und zum Beispiel durch Entlastung und Verantwortungsabgabe darauf zu reagieren. Schritt für Schritt und ganz gemach. Die Gangart der Schnecke.

Die Schnecke hat fünf Gänge, die wir wieder lernen könnten:
1. Gemach, Gemach, langsamer werden.
2. Dran bleiben – beharrlich sein
3. Besinnen vor beginnen – bedächtig gehen
4. Die Fühler ausstrecken – empfindlich werden
    5. Unterwegs sein und doch immer zu Hause sein