Auf ein Wort …

Warum erzählen sich Menschen Geschichten ?

Überall auf der Welt gibt es Dinge, die alle Menschen tun – unabhängig von ihren Kulturen oder ihren Persönlichkeiten.  Das sind Beschäftigungen wie essen, trinken, schlafen und erzählen. Warum aber ist gerade das erzählen überall ein Bestandteil dieser biologisch notwendigen Tätigkeiten ? Erzählen ist ja nicht überlebensnotwendig. Warum tun wir es dann aber und warum ist es uns so wichtig?

Es gibt kaum Forschungen darüber, was das erzählen bewirkt. Allein die Psychologie beschäftigte sich mit dieser Frage und kam zu dem Schluss: wir brauchen das erzählen für unsere geistige Entwicklung und für die Herausbildung unserer Persönlichkeiten. 

Kinder brauchen Geschichten

Das wäre auch ein Erklärung für den unstillbare Geschichtenhunger unserer Kinder. Kinder können vom Geschichten erzählen nicht genug bekommen. Sie stehen vor der Herausforderung, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und sich zu behaupten. Dabei thematisieren Kinder alles. Und die Geschichten erklären ihnen die Welt und helfen ihnen dabei, ihre Position in dieser Welt zu finden und sich dort im Verhältnis zu den Dingen und den Menschen zu orientieren. Das geschieht über eine Identifikation mit den Rollen: Kinder können in den Geschichten ein Zauberer werden oder ein Däumling sein. Darum ist Geschichten erzählen ebenso wichtig wie die Rollenspiele der Kinder. Spiel und Erzählung funktionieren jedoch nur, wenn man sie zumindest halbwegs ernst nimmt. 
Nur wenn wir uns auf die Welt der Erzählung einlassen, können wir in die Geschichte eintauchen. Sobald jemand sagt: „ Das glaube ich nicht ! „ oder „ Aber das gibt es ja gar nicht ! „ … ist der Zauber vorbei.  Eben dieser Zauber des Besonderen macht das Erzählen und das Spielen zu Tätigkeiten, die sich vom Alltag hervorheben.  Es scheint also , als hätten Geschichten bei Kindern eine doppelte Funktion : Kinder können mit ihnen aus der eigenen Lebensrealität ausbrechen und verschiedene Rollen annehmen. Das ist wichtig um Empathie für andere zu entwickeln.  Und andererseits geben Geschichten den Kindern Sicherheit. Kinder lieben Wiederholungen und wollen darum die Geschichte genauso immer wieder erzählt hören. Anscheinend bietet ihnen das Halt in dieser Welt voller Veränderungen. Die bekannten Figuren und Abläufe suggerieren den Kindern Sicherheit und vermitteln das Gefühl: alles ist gut. Alles ist wie immer.  Kindern wird dabei nicht langweilig, weil sie sich auf die Geschichten einlassen können und mitfiebern. Und wer weiß: vielleicht gibt es ja doch noch eine überraschende Wendung. Geschichten und auch das Leben sind voller Überraschungen.

Die Herausbildung der eigenen Identität ist allerdings nicht nur auf Kinder und die Kindheit beschränkt, sondern ein Prozess, der andauert und das ganze Leben weitergeht. Darum erzählen wir alle ja unsere Geschichten. 

Geschichten mitten aus dem Leben

Und wer genau zuhört erkennt immer die gleiche Struktur. Der eine ist stets ein erfolgreicher Aufsteiger und erzählt entsprechend immer neue Erfolgsgeschichten. Ein anderer ist der arme Tropf, dem immer wieder schlimme Dinge Wieder fahren. Es ist erhellend, sich diese Geschichten aufmerksam anzuhören – finde ich. Wir alle erzählen und hören gerne Geschichten – egal ob beim Essen, in der Kneipe beim Feierabendbier, mit Freunden, in der Familie oder unter Kollegen.

Wir erzählen uns, was wir erlebt haben, welchen Herausforderungen wir gegenüberstanden, wie wir sie gelöst haben, wer uns dabei geholfen hat und wer uns Steine in den Weg gelegt hat. Wenn wir einander unsere Geschichten erzählen, brauchen wir den Widerhall im anderen um uns selbst zu erkennen. Das passiert über die Reaktionen der anderen. Verstärkt wird dies natürlich ganz besonders über die Reaktionen in den sozialen Plattformen, über die heutzutage die Geschichten gerne erzählt werden.

Vernetzungsgeschichten

Heutzutage sind Vernetzungsgeschichten, das heisst Geschichten, die stark im Wechselspiel mit anderen stattfinden wichtig geworden für die eigene Identität. Dabei wird mit dem Blick auf die Reaktionen der Leser das eigene Selbst und auch die eigene Identität konstruiert – mitunter wird dabei leider auch immer wieder bewusst manipuliert. 

Es werden zunehmend mehr Geschichten erzählt im Austausch mit anderen Menschen und dabei folgt niemand mehr den klassischen Erzählstrukturen. Es gibt in diesen “Vernetzungsgeschichten” keinen Anfang und kein Ende. Es sind Bruchstücke, Lebensfragmente, die sich nur in der Gesamtheit als eine Geschichte zusammenfügen. Den meisten Menschen ist wohl nicht bewusst, wie stark sie sich über und durch die Reaktion der anderen definieren und was sie dadurch alles von sich preis geben. 

Durch das Erzählen werden außerdem unsere Erlebnisse strukturiert und geordnet. Erzählen dient also als Orientierungshilfe und als Ordnungssystem.  Das war auch vor 2000 Jahren nicht anders. Geschichten sind die älteste Form, Erfahrungen, Emotionen und Informationen auszutauschen. Geschichten wurden  erzählt   um mit ihnen Werte weiter zu geben und auch um Verhaltensformen zu vermitteln. Durch Geschichten  werden und wurden ganze Gesellschaften, Nationen und Staaten zum Handeln bewegt, wenn Geschichten  für politische Zwecke genutzt wurden. Von wegen : Geschichten sind nur für Kinder. Das Leben ist voller Geschichten. Die Menschen gehen – Geschichten aber bleiben. Geschichten verbinden und dabei begingen erzählen und zuhören einander.

Vom Erzählen erzählt 

Ich denke, die Menschen erzählen einander ihre  Geschichten  weil es ihnen Spaß macht. Zumindest bin ich aus diesem Grund eine Geschichtenerzählerin geworden. Wenn ich erzähle, bin ich voller Freude weil das Erzählen berührt. Mein Weg ist der Weg nach innen. Dorthin nehme ich meine Zuhörer mit.
Erzählen ist so viel mehr als eine Verbindung Mund zu Ohr herzustellen. Es ist das Weben sehr feiner Fäden zwischen den Herzen. Eine gute Erzählerin weiß sanft die Seele zu berühren. Sie arbeitet mit Worten und Bildern und durch eine Stille, in der das Erzählte nachklingt und den Raum erfüllt. Die Geschichten lächeln darum auch aus den Gesichtern der Zuhörer. Es erfüllt mich mit großer Freude, wenn ich spüre, das ich die Zuhörer erreiche und sie an dem Zauber der Geschichten teilhaben lassen kann.
Sensibilisieren und reduzieren ist das Wesen meiner Arbeit. Beim erzählen geht es nicht nur um die Geschichte. Es  geht auch um die Informationen und Emotionen, die durch die Geschichten vermittelt werden. Diese muss man als Erzähler auch erkennen. Oftmals wirkt es so einfach – aber es ist ein sehr komplexer Vorgang. Jeder, der ein Instrument spielen kann oder eine andere Kunst beherrscht, weiß das. Was spielerisch einfach wirkt, ist alles andere als das.

Apropos Musik : nicht nur mit Worten, auch mit Musik kann man Geschichten erzählen. Musik und Klänge wurden in vielen Kulturen als Wege für Heilungsprozesse genutzt. Wenn sie auf unterstützende Art eingesetzt werden, können damit Krankheiten präventiv verhindert oder bestehende schneller geheilt werden. Die Ärzte und Musiker früherer Zeiten waren sich der heilenden Kräfte bestimmter Klänge und Melodien bewusst. Sie setzten Musik ein, um das geistige Wachstum zu fördern und um Seele und Körper wieder in Einklang zu bringen. Ergo : Musik und Klänge wurden in vielen Kulturen als Wege für Heilungsprozesse genutzt.

Fazit: Nicht nur das Erzählen – auch die Musik sind unerläßlich für unser Leben, für das Leben von uns allen, und noch nie haben wir ihrer so sehr bedurft. Meiner Meinung nach sind all diese Künste durchaus systemrelevant.