Die Götter in weiß

Mythen sind so alt wie die Welt. Mit ihnen erklärte man sich einst die Entstehung der Welt. Ursprünglich offenbarten sich die Götter in den Elementen: im Knistern der Flammen hörte man ihr Gelächter, im Grollen der Erdtiefe ihren bebenden Zorn. Später wurden die Naturkräfte personifiziert und die Urkräfte wurden durch den menschlichen Geist dem Willen der Götter untergeordnet. Diese Gottheiten bekamen Gesichter, andere Gestalten, Geschichten und ihren eigenen Kult.

Circa im Jahre 400 fand die heidnische Götterwelt ihr Ende. Dennoch hielten sie sich die alten Götter durch die Jahrhunderte und all die Zeitenwenden.  Sie lebten weiter in den Märchen und der Dichtung . Auch in der bildenden Kunst fanden sie ein Abbild mit all ihren vielen Gesichtern.
Götter waren allwissend und mächtig: Sie verkörperten die urgewaltigen und verheerenden Kräfte der Natur. Sie konnten das Wasser peitschen, ein Sturm war ihr Atem, ihr Grollen der Donner, die Blitze symbolisierten ihre Wut. Sie waren unbezähmbar und unberechenbar. Sie bewohnten die unendlichen Welten und mächtigen Berge, aber auch Bäumen und Quellen erkoren sie zu ihrem Zuhause und sie waren sich der Kräfte der Natur bewusst. In der Antike gab es viele polytheistische Götterwelten, das heißt viele verschieden Gottheiten mit verschiedenen Namen und Erscheinungsformen. Sie erschienen verkörpert als Tiere, Nymphen, Mischwesen, wilde Männer in den Bergen oder als ungezähmte  Frauen in Wäldern.

Die Geburt der Zentauren 

Kronos – ein Titan und Vater des Zeus – zeugte mit Philyra ein Mischwesen. Um nicht von seiner Gattin Rhea bei einem Seitensprung entdeckt zu werden, nahm er die Gestalt eines Pferdes an, als er sich mit der Titanentochter Philyra vereinigte.

Das Ergebnis war denn auch ein wildes Mischwesen aus Pferd und Mensch – ein Kentaur namens Cheiron. Dieser Halbbruder des Zeus war ein Freund der Götter und übernahm die Ausbildungen von ganzen Generationen junger Männern, die ihre Knabenweihe – also ihre Initiation zum Mann – bei ihm in seiner Höhle in den Bergen durchlebten. Die griechischen Sage berichtet von Helden wie Achilleus und Patroklos, Aktaion und Dionysos, Peleus und Jason, die allesamt von Cheiron  ihre Erziehung und Rat empfingen.  Diese Helden gehören verschiedenen Epochen an und mit ihnen wandelte sich auch das Bild ihres sagenhaften Lehrers und Erziehers im Lauf der Zeit.

Bild oben : Cheiron lehrt den jungen Achilleus das Spiel auf der Kithara. Altrömisches Fresko aus dem Augusteum (der sogenannten Basilika) in Herculaneum. Archäologisches Nationalmuseum Neapel

Der Zentaur Cheiron durchlebte eine bemerkenswerte Verwandlung. Unerschöpflich war sein geheimes Wissen um die reinigende Wirkung von Quellwasser, die lindernde Kraft der Kräuter und bannende Gewalt eines magischen Spruchs.
Bei ihm deutet die halbe Rossgestalt noch auf das tierische Wesen hin, durch sie ist er mit der animalischen Natur verhaftet.
Lange Zeit war es noch Bestandteil griechischer Kultur, die Herzen von Löwen und Ebern zu verspeisen um sich die tierische Kraft auf magische  Weise anzueignen. Mit diesem Ritual  sollten Kraft und Lebensmut dieser Tiere in das eigene Fleisch und Blut übergehen.
Im Lauf der Zeit veränderten sich die Riten und immer stärker trat der menschliche Aspekt in den Vordergrund. Götter wurden nicht mehr als Mischwesen dargestellt, sondern bevorzugt in menschlicher Gestalt. Später vereinigten sich sogar die Götter mit dem Menschengeschlecht und es entstanden Halbgötter. 
Auch bei dem Zentauren Cheiron trat die Menschlichkeit immer mehr in den Vordergrund. Zu seiner Erziehung gehörten inzwischen die menschlichen Tugenden sowie Selbstbeherrschung, Ehrfurcht und Gerechtigkeit. An die Stelle der animalischen Lebenserhaltung und dem Recht des Stärkeren traten nunmehr menschliche Tugenden und Mitgefühl.
Immer mehr verwandelte sich der einst wilde Berggeist in einen gütigen, milden Berater voller Weisheit. Zu ihm kamen verfolgte Kreaturen, Sterbliche und auch unsterbliche Götter und suchten seinen Rat.  In seiner Berghöhle war er Mittler zwischen Erde und Olymp.  

Die Geburt der Chirurgie 

Obwohl zahlreiche griechische Helden ihn als Lehrmeister hatten, gibt es nur einen, der sein Nachfolger wird. Es gibt nur einen einzigen seiner Schüler, der den selben Weg geht :  Asklepios, ein Sohn des Apollon und einer Sterblichen. Fast erscheint er wie eine neue und letzte Verwandlung des alten Zentauren.
Wie ist die griechische Sage erzählt, hatte Coronis bereits von dem Gott Apollo  ein Kind empfangen als sie sich in den Sterblichen Ischys verliebte. Das lies Apollon vor Eifersucht rasen und durch die Pfeile seiner Schwester ließ er Coronis und ihre ganze Sippe vernichten. Die Pfeile enthielten übrigens eine tödliche Krankheit …. 
Als der Scheiterhaufen schon brannte, rettete Apollo das ungeborene Kind aus dem Schoß der Koronis. Und vielleicht war dies der erste chirurgische Eingriff …
Apollo gab seinen Sohn, den er Asklepios nannte,  in die Aufsicht des Zentauren Chiron, damit dieser das Kind erziehe.  Der Säugling wurde zunächst mit Ziegenmilch großgezogen und wuchs in den Bergen  heran. Er  lernte von dem Zentauren Chiron die Künste der Jagd, erfuhr die heilende Wirkung der Kräuter und lernte Brüche und Wunden heilen. Er lernte, Heilsames von Schädigenden zu unterscheiden. 

Als die Lehrzeit zu Ende war, ging er in die Welt wie all die anderen Schüler Cheirons auch.  Doch ihm stand der Sinn nicht nach Waffen, Kampf und Ruhm. Asklepois verkörpert bereits andere Werte seiner Zeit : Für die Menschen dieser Zeit  ist die Krankheit –  die Zerstörung der Lebenskraft –  furchterregend  geworden. Sie glaubten, das die Krankheit   eine Strafe der Götter ist, der sie nicht entgegen zu setzten hatten.

Doch eben der Krankheit galt Asklepios Wanderschaft durch alle Landschaften Griechenlands. Sein Wirken und Tun darauf ausgerichtet, die Krankheiten zu heilen. Bald strömen ihm von überall die Geplagten zu und er heilte sie durch die Geschicklichkeit seiner Hände, durch die Kenntnis der Kräuter und durch die von Cheiron erlernten magischen Mittel  wie Besprechungen. Aber auch Reinigung und wundertätiger Schlaf waren Teil seiner Heilungsprozesse.  Durch dieses Wirken blieb Asklepios seinem Lehrer Chiron verbunden, der inzwischen gestorben war.

Dennoch kam der Tag, an dem der Heiler sich von dem erdverbunden Mischwesen Chiron löste und von einem neuen furchtbaren Ehrgeiz getrieben wurde. Es genügte ihm nicht mehr, Kranke zu pflegen und zu heilen oder  Rat zu erteilen.
Er war der Sohn des  Gottes Apollon und das ewige Leben war nun das Ziel seiner Sehnsucht. Er dachte daran, die sterblichen Menschen aus der verhassten Unterwelt zu befreien. So versuchte er also,  Tote zu erwecken und es gelang ihm auch: Er zwang die Lebenskraft zurück in den Leib, den Schatten zurück in die Gestalt. Damit hatte eine göttergleiche Macht.  Doch mit diesem Begehren hatte er zugleich ein Gesetz übertreten, dass seinem Lehrer – dem Zentauren Chiron –  immer heilig gewesen war: das Maß, dass die Götter den Menschen gesetzt hatten. 
Der Zorn der Götter war über diese Anmaßung geweckt und als Strafe schleuderte Zeus eines Tages sein tödliches Feuer auf Asklepios. Und mit seinem tragischen Ende erlosch auch das Vermächtnis und die Gestalt des Zentauren Chirons.

Auch Asklepios  hatte wie sein weiser Lehrer eine Reihe von Schülern, die sein Werk später fortführen. Doch das spielte sich von nun an alles fern der Natur ab. Heiligtümer wurden gebaut und  von Priesterkasten beherrscht. Die Kranken und Heilungssuchenden mußten fortan zu diesen Heiligtümern reisen. Vielfältiges Zauberwesen macht sich breit, die Hilfe der Priester wurde käuflich und die Heilung damit ein Mittel der Macht. 

Immer entfernter klang das Rauschen der heiligen Wasser, immer leiser tötnen die Stimmen der Wildnis und immer mehr verschwand von der Natur und der Weisheit des alten Zentauren. Seine Heilkunst umschloss beides ehrfürchtig: Licht und Dunkel  – Leben und Tod. Der Heilkunst aber haftete von nun an für alle Zeit etwas an vom Frevel des Asklepios an und bedient sie sich auch so feiner Waffen im Kampf gegen Krankheit und Alter, wird doch immer wieder Schützenswertes durch gewaltsame Zerstörung oftmals zunichte gemacht.

 Die Halbgötter der Heilkunst 

Götter in Weiß leitet sich unter anderem auch von diesem Hintergrund ab. Diese Redewendung nimmt Bezug auf all diejenigen, die ähnlich Asklepios eine fast göttergleiche Macht haben und über Leben und Tod entscheiden können. Halbgötter hatten viele göttliche Eigenschaften, die sie aus der Masse der normal Sterblichen heraushoben. Eine Eigenschaft der Götter besaßen sie allerdings nicht: Sie waren normal sterblich. 

Auch die Halbgötter unserer Zeit entscheiden oft über Leben und Tod. Doch das Erleben der Heilkunst ist in unserem Alltag meist erschwert. Unsere Zeit ist geprägt von fortschreitender Automatisierung und Technisierung der Medizin, die mitunter der Magie von einst ähnelt.
Doch echte Heilkunst ist in der Lage, profundes medizinisches Wissen mit Erfahrung und Intuition zu verbinden und so erst zur Geltung zu bringen und einen Heilung zu bewirken. Für die besondere Beziehung zwischen Heiler und Patient  bedarf es Raum  und Zeit um Konzentration, Zuwendung und Empathie zu schaffen. 
Leider ist mit der Ökonomisierung der Medizin die Zeit kostbarer geworden als die menschliche Zuwendung und die tatsächliche Heilung selbst. Einst galten Heiler als erfolgreich, wenn Kranke gesundet waren. Heute sind Halbgötter in weiss ökonomisch gesehen  dann erfolgreich,  wenn Effizienz und Profitabilität gesteigert werden. Die Heilung steht schon lange nicht mehr im Focus …

Ob die Gesundheitswirtschaft den Wert der Heilkunst erkennt oder vielleicht sogar etwas von der Heilkunst lernen kann ? Es wäre wünschenswert:  eine Gesundheitswirtschaft, die zukünftig alles inkludiert und menschlich statt ökonomisch denkt und handelt.